Das Relikt von Bir Hooker: Die Entdeckung

Fortsetzung von
Das Relikt von Bir Hooker: Wie alles begann

Reisebericht von Gregor Spörri (1988)
Der klapprige Peugeot 504 quält sich durch den rund um die Uhr herrschenden Stau. Während die Füße des Taxifahrers auf den Pedalen tanzen, hämmert er seine Faust unentwegt aufs Steuerrad. Offensichtlich schafft man es nur mit rücksichtslosem Drängeln und Hupen, in diesem Chaos irgendwie voranzukommen. Ich äuge aufs Armaturenbrett, um herauszufinden, wie viele „Millionen“ Kilometer der klapprige Karren wohl schon auf dem Buckel hat. Tacho und Kilometerzähler funktionieren aber genauso wenig wie die Lüftung – von einer Klimaanlage ganz zu schweigen.

Als wir endlich die Stadtgrenze erreichen, nimmt der Verkehr rapide ab und ich kann wieder durchatmen. Ahmed hat mir nicht verheimlicht, dass sich das Ziel außerhalb Kairos befindet. Dass wir auf der Wüstenstraße in Richtung Alexandria unterwegs sind, wundert mich allerdings.
Statt Häuserschluchten ziehen jetzt Palmenhaine, Buschlandschaften und Sandhügel an den ringsherum offenen Fenstern vorbei. Wir überholen Eselskarren und röhrende Lastwagen, die stinkende Rußwolken in die Luft blasen; weichen Schlaglöchern, brennenden Palmwedel-Haufen und Tierkadavern aus. Meist sind es überfahrene Streuner wie Hunde oder Katzen. Es sind aber auch Esel darunter, die mit von Verwesungsgasen prall gefüllten Bäuchen alle viere von sich strecken. Gelegentlich halte ich meine Kamera aus dem Fenster und drücke ab.

Zweieinhalb Stunden später verlassen wir bei Bir Hooker die Wüstenstraße und biegen auf einen Feldweg ein. Der 504 holpert den Weg entlang bis zu einem von Dattelpalmen und einer Lehmziegelmauer umgebenen Farmhouse. Vor dem Tor spielen Kinder. Sie kommen angerannt und strecken ihre lachenden Gesichter ins Wageninnere. Der Fahrer drückt auf die Hupe. Ich steige aus. Sofort umringen mich die Kinder mit großem Hallo.

Bir Hooker, Wadi el Natrun, 120 Kilometer von Kairo
Ein ziemlich abgelegener Ort für einen Souvenirladen, denke ich, da kommt der Händler auch schon ans Tor. Der Araber ist einen halben Kopf größer als ich und trägt das traditionelle Männerkleid, die Dschallabija. Ich schätze ihn auf über 70 Jahre. Sein längliches scharfkantiges Gesicht hat etwas von Pharao Echnaton.
Der Fahrer parkt seinen Peugeot unter den Palmen und macht es sich bei rundherum geöffneten Türen auf der Rückbank bequem.
Nagib, so stellt sich der Alte vor, verscheucht zuerst die Kinderschar, dann führt er mich außen herum zur Rückseite des Hauses. Ich halte nach so etwas wie einem Verkaufsraum Ausschau, doch da gibt es nichts außer einer hölzernen Sitzbank und einem kleinen Tisch. Nagib bittet mich Platz zu nehmen und verschwindet dann im Haus. Kurz darauf kehrt er mit Tee und Datteln zurück. Während das Getränk in den Gläsern dampft, kramt er eine Shisha unter der Sitzbank hervor und lässt sich neben mir nieder. An der Pfeife nuckelnd, mustert er mich von oben bis unten, dann fragt er in gebrochenem Englisch: »Woher kommst du?«
»Aus der Schweiz.«
»Hmmm … Was willst du?«
Ich schaue ihn komisch an. »Ich bin wegen den Souvenirs hier.«
Jetzt ist er es, der komisch dreinblickt. »Was für Souvenirs?«
Ich bin irritiert. »Aber dieser Ahmed vom Hotel Capsis in Kairo. Sie kennen ihn doch, oder?«
Nagib nickt. »Er ist mein Neffe.«
»Okay, also, Ihr Neffe sagte mir, Sie hätten ein paar sehr schöne Stücke zu verkaufen. Und weil ich auf der Suche nach einem dekorativen Erinnerungsstück bin für meine Wohnung …«
»Dekoratives Erinnerungsstück?«, unterbricht mich der Alte und verzieht das Gesicht. Danach will er von mir wissen, was ich beruflich mache und weswegen ich nach Ägypten gekommen sei. Ich frage mich, was ihn das angeht, erzähle ihm dann aber doch von meiner Firma und den Pyramiden-Experimenten. Er hört mir aufmerksam zu und stellt hin und wieder eine Frage. Als ich die Felsenkammer unter der Cheops-Pyramide erwähne, zieht er für einen Moment die Augenbrauen hoch. Dann geschieht eine ganze Weile nichts mehr. Er raucht und blickt dabei in die Ferne. Ich sitze neben ihm, trinke Tee und kaue seine Datteln.

Schließlich stellt Nagib den Rauchapparat beiseite. »Mein Neffe hat sich in dir geirrt. Was ich anzubieten habe, ist bestimmt nicht das, wonach du suchst. Ich werde ihm eine Nachricht schreiben, danach bringt dich das Taxi zurück in die Stadt.«
Ich komme mir vor wie der größte Idiot. Der Tag ist im Eimer. Meine Laune genauso. »Ahmed wird etwas von mir zu hören bekommen!«, rufe ich aus.
Nagib steht auf. Eine junge Frau kommt aus dem Haus. Wie ich später erfahre, ist es seine Enkelin. Die beiden palavern drauflos. Ich verstehe kein Wort. Die Frau verschwindet wieder im Haus und der alte Kauz nimmt aufs Neue neben mir Platz.
Wieder geschieht eine ganze Weile lang nichts, dann sagt Nagib, kaum lauter als ein Murmeln: »Ich könnte dir, gegen ein entsprechendes Entgelt, schon etwas zeigen.«
Ich reagiere gereizt: »Eben sagten Sie, Sie hätten nichts für mich!«
»Ich will es dir auch nur zeigen, nicht verkaufen.«
»Und dafür soll ich auch noch bezahlen?«, beschwere ich mich.
Da erzählt Nagib mir, er verkaufe aus alten Gräbern herausgeholte Kunstschätze an gutbetuchte Sammler aus der ganzen Welt.
Im Gegenzug frage ich mich, wie der Barkeeper auf die Idee kommen konnte, in mir einen Antiquitätensammler zu sehen. Diese Typen tragen für gewöhnlich feine Stoffe und Seidenkrawatten, während ich mit T-Shirt, verwaschenen Jeans und ausgelatschten Sandalen durch die Gegend laufe. Mir fällt dazu nur eine Antwort ein: Ahmed hat gestern Abend dem Gespräch zwischen Jochen und mir gelauscht und völlig falsche Schlüsse daraus gezogen.

»Er ist sehr, sehr alt«, höre ich Nagibs Stimme an meinem Ohr. »Nur sehr wenige Menschen haben ihn jemals zu Gesicht bekommen.«
Ich schaue Nagib von der Seite her an. Sein Blick ist wieder in die Ferne gerichtet.
»Dich interessiert doch, was es mit der Großen Pyramide auf sich hat, oder?«
Ich lege meine Stirn in Falten.
»Der Mensch fürchtet sich vor der Zeit, aber die Zeit fürchtet sich vor den Pyramiden.«
Was redet er da?
»Wenn du gesehen hast, was ich dir zu zeigen bereit bin, wirst du die Pyramide mit ganz anderen Augen sehen.«
Will der Alte mich veräppeln? Ich frage ihn: »Sie kennen den wahren Zweck der Großen Pyramide?«
»Nein, aber ich kenne ein paar sehr alte Legenden.«

Die mit Lehm verputzten Wände schimmern in blassem Blau. Vorhänge statt Türen trennen die Räume. Nagib führt mich in eine Kammer im hinteren Teil seines Hauses. Es gibt eine Kommode dort, einen blinden Spiegel, ein Sofa mit einer schmuddeligen roten Decke darüber, einen Schrank und zwei Holztruhen. Der Raum wirkt völlig überladen. Die Einrichtung ist zwar alt und abgenutzt, dennoch wirkt sie viel zu feudal für ein ägyptisches Landhaus. Als Sohn eines Stilmöbelschreiners meine ich zu wissen, dass es sich um englische Möbel des späten 19. Jahrhunderts handelt.

Nagib bittet mich auf dem Sofa Platz zu nehmen, kramt einen Schlüsselbund unter seinem Kleid hervor, beugt sich über eine der beiden Truhen und öffnet sie. Ich recke den Hals, doch sein Rücken versperrt mir die Sicht. Als Nagib sich umdreht, hält er ein längliches, in braunes Leder gewickeltes Bündel in den Händen. Er legt es neben mir auf dem Sofa ab und löst die Schnüre. Unter dem Leder kommt schmutzig-weißes Leinen zum Vorschein. Vorsichtig faltet er den Stoff auseinander.

Mit einer Mischung aus Neugierde und Verwunderung betrachte ich den muffig riechenden Gegenstand. Er hat die Form eines Knebels, ist etwa 30 bis 40 Zentimeter lang, sechs bis acht Zentimeter dick, auf der Oberseite flachgedrückt und der Länge nach zwei Mal geknickt. Am dickeren Ende ragt ein Stück Knochen heraus. Was ist das? Ein abgehacktes Ziegenbein? Will der Alte mich veräppeln? Ich sehe genauer hin. Die haarlose, teilweise von Schimmel befallene bräunliche Haut ist an mehreren Stellen aufgeplatzt. Das faserige Gewebe darunter erweckt den Anschein, als hätten Mäuse daran genagt.

Ich hebe das gruselige Ding hoch. Es wiegt einige hundert Gramm. Ratlos drehe ich es um und erstarre im selben Moment. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Das ist absolut unmöglich, schießt es mir durch den Kopf. Was ich da in meinen Händen halte, kann es überhaupt nicht geben! Ich zwinge mich, den Blick davon zu lösen, und sehe zu Nagib hoch. Der steht mit unbewegtem Gesicht über mir. Einen Moment lang starren wir uns gegenseitig an. In seinen dunklen Augen spiegelt sich das Wissen um ein ungeheuerliches Geheimnis aus längst vergangenen Zeiten.

Ich will und kann es nicht glauben, also studiere ich den Finger genauer. Nagib bemerkt mein Misstrauen, greift nochmal in die Truhe, befördert eine Ledermappe ans Licht und überreicht sie mir. In der Mappe befinden sich ein altes Vergrößerungsglas sowie ein Briefumschlag mit einem vergilbten Dokument. Eine rostige Büroklammer fixiert eine Art Checkliste zum Abhaken, eine von Hand zugeschnittene Röntgenaufnahme sowie ein verblasstes Polaroid-Foto des Fingers. Nagib erklärt mir, er habe das Relikt von seinem Vater geerbt, der es seinerseits von seinem Vater übernommen hatte. Woher der Finger ursprünglich stammt, kann oder will mir der Alte nicht sagen. Zur Existenz des Röntgenbilds erklärt er jedoch, sein verstorbener Sohn habe das Relikt in den 1960er-Jahren von einem Bekannten in Kairo untersuchen lassen.

Ist das Relikt eine Fälschung

Mein Vater ist von Beruf Stilmöbelschreiner. Als Junge ging ich nach der Schule oft in seine Werkstatt, um mir irgend ein Spielzeug zu basteln.
Ich kenne mich daher mit den unterschiedlichsten Materialien aus und weiß, wie sich verschiedene Hölzer und Lederarten, Stoffe, Plastik usw. anfühlen.

Mit diesem Wissen und dem Gespür meiner Finger begutachtete ich das Relikt. Die Lupe ist mir dabei eine große Hilfe. Doch egal, wie stark ich meine Augen quäle, ich kann nichts finden, was auf eine Fälschung hindeutet. 
Nach gut einer Stunde gibt mir Nagib zu verstehen, dass meine Besuchszeit zu Ende ist. Ich möchte den Finger fotografieren, wofür ich natürlich ein großzügiges Bakschisch hinlegen muss. Leider ist der 24er-Film in meiner Kamera bereits zur Hälfte voll geknipst. Um die enorme Größe des Fingers zu dokumentieren, lege ich eine ägyptische 20-Pfund-Note daneben. Auf meine Bitte hin macht Nagib auch ein Bild von mir mit dem Finger auf meinem Schoß. Danach begleitet er mich nach draußen, wo der Taxifahrer bereits ungeduldig wartet. Ich frage den Alten noch, ob er das ggf. Relikt verkaufen würde, was er jedoch entschieden ablehnt.

Während der Fahrt von Bir Hooker zurück nach Kairo denke ich weiter angestrengt nach. Habe ich etwas übersehen? Der Alte handelt seiner Aussage nach mit geraubten Antiquitäten. Warum nicht auch mit Fälschungen? Mit nachgeahmten Figuren, Gefäßen, Möbeln und anderen Gegenständen aus der Pharaonenzeit lässt sich bestimmt viel Geld verdienen, aber damit? Zudem: Eine Fälschung in dieser Qualität, dazu mit Dokumenten und einer Röntgenaufnahme, ist bestimmt nicht einfach und billig herzustellen. Wozu also der ganze Aufwand? Und dann wollte Nagib mir das Ding ja nicht einmal verkaufen. Je länger ich über alles nachdenke, umso sicherer bin ich mir: Das Relikt von Bir Hooker ist keine Fälschung!

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Das Relikt von Bir Hooker: Analysen

Die Mysterien rund um das Relikt von Bir Hooker hat Spörri in seinem Science-Fiction Thriller LOST GOD – Das Jüngste Gericht verarbeitet.

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