Seit 1978 betreibt Gregor Spörri eine Firma für Diskothekenausstattungen, Konzepte und Design. Im Frühjahr 1988 reist der damals 33-jährige Schweizer nach Ägypten. Zuerst wird er im Roten Meer nach Wracks tauchen. Danach sucht er in den historischen Stätten des Landes nach Inspirationen für eine Diskoeinrichtung im pharaonischen Stil. Und zu guter Letzt will er noch einer geheimnisvollen Kraft nachspüren, die angeblich seit Jahrtausenden in der Großen Gizeh-Pyramide wirkt. Sowohl das Tauchen als auch die Fotosafari quer durch das Land sind für den Basler ein willkommener Ausgleich zum anstrengenden Berufsalltag.
Die Erforschung der Pyramidenkräfte gestaltet sich deutlich schwieriger als gedacht. Doch wie kommt Spörri überhaupt auf diese verrückte Idee?
Mitte der 1980er-Jahre liest er im Buch „Pyramid Power“ von Dr. Patrick Flanagan erstmals über die mysteriöse Pyramidenkraft. In der Yoga-Lehre nennt man diese Kraft Prana, bei den Chinesen Ch’i und in esoterischen Kreisen Odische Kraft, Bioplasmische Energie usw.
Etwa zur selben Zeit hört er von einem sonderbaren Erlebnis des französischen Kaisers und Generals Napoleon Bonaparte. Nach der gewonnenen Schlacht bei den Pyramiden im Jahr 1798 hat der Feldherr, so heißt es, die Große Pyramide im Alleingang erkundet. Als er das Bauwerk nach einigen Stunden wieder verlässt, macht er einen völlig verstörten Eindruck. Sein Adjutant zeigt sich besorgt, doch Napoleon verweigert ihm jede Auskunft. Erst viele Jahre später, während seiner Verbannung auf der Insel Elba von 1814 bis 1815, verrät Bonaparte, in der Großen Pyramide eine düstere Vision seiner Zukunft empfangen zu haben.
Spörri liest den Napoleon-Bericht mit großer Skepsis, dennoch beginnt ihn die Sache zu interessieren. Und so stösst er schließlich auf Paul Bruntons Buch „Geheimnisvolles Ägypten“. Der englische Journalist verbrachte in den 1930er-Jahren eine ganze Nacht allein in der Großen Pyramide. In seinem Buch berichtet er von allerlei unheimlichen Erlebnissen. Nachdem er es auch noch gewagt hatte, sich in Cheops steinernen Sarkophag in der Königskammer zu legen, widerfuhr ihm nach eine überwältigende Einweihung seiner Seele in die Unsterblichkeit.
Die Berichte von Napoleon Bonaparte und Paul Brunton fordern den wissbegierigen Schweizer geradezu heraus, dem Mysterium vor Ort auf den Grund zu gehen. Spörri weiß, worauf er sich einlässt und macht sich auf einiges gefasst. Seine Ägyptenreise endet denn auch mit einem ungeheuerlichen Erlebnis, wenn auch von gänzlich anderer Art als erwartet.
Nachfolgend Spörris Bericht, entstanden aus den Aufzeichnungen seines Reisetagebuchs von 1988.
18:10 Uhr. Ich liege in Pharao Cheops‘ Granit-Sarkophag auf dem Rücken und starre in die Dunkelheit über mir. Ich lasse meine Stimmbänder vibrieren. Der tief angelegte Summton aus meiner Kehle erzeugt einen überwältigenden, fast schon schmerzhaft lauten Resonanzeffekt innerhalb des Sargs. Ich halte den Summton so lange wie möglich, dann hole ich tief Luft und beginne von Neuem. Genauso hat es auch Paul Brunton rund 50 Jahren vor mir gemacht.
22:20 Uhr. Der Kehlkopf und mein Rücken tun mir weh. Bis jetzt verspüre ich weder die Existenz irgendwelcher Kräfte, noch nehme ich eine Veränderung meines Bewusstseins wahr. Vier Stunden später klettere ich enttäuscht aus dem Sarkophag und verlasse die Königskammer.
Gespenstische Schattenbilder, von meiner Taucherlampe als einzige Lichtquelle erzeugt, huschen über das riesige Kraggewölbe der Großen Galerie. Am Fuß des über acht Meter hohen und 50 Meter langen Gewölbegangs zwänge ich mich in den nächsten Schacht. Er ist benah 40 Meter lang und führt in die sogenannte Königinnenkammer. Der Raum ist leer. Es gibt nur eine hohe stufenförmige Nische sowie einen kleinen Tunnel, der von der Kammer aus irgendwohin führt.
Ich hocke mich in der Mitte der Kammer auf meinen Rucksack und mache die Lampe aus. Trotz der Wärme fröstelt mich. Vollkommen allein zu sein in diesem sagenumwobenen Monument, fühlt sich schon etwas unheimlich an.
01:40 Uhr. Ich schrecke hoch. Etwas krabbelt über meine Stirn – hoffentlich kein giftiger Skorpion. Mit einer schnellen Handbewegung wische ich das Ding aus meinem Gesicht.
Ich muss eingenickt sein, nachdem ich in der Königinnenkammer ohne jeden Erfolg weitere zweieinhalb Stunden lang die eintönige Om-Silbe als Repräsentation des höchsten Gottesprinzips vor mich hin gesungen habe. Zerknirscht nehme ich zur Kenntnis, dass auch hier keinerlei kosmische oder anderweitig energetische Kräfte wirken.
Ich kraxle zurück zur Abzweigung unterhalb der Großen Galerie und von dort weiter in den stockfinsteren, gerade einmal 1,09 x 1,2 Meter keinen und 105 Meter langen absteigenden Korridor, der 30 Meter hinunter ins Sockelgestein der Pyramide führt. Die letzten Meter bis zur sog. unvollendeten Felsenkammer muss ich, den Rucksack vor meinen Bauch geschnallt, sogar auf allen vieren kriechen, so eng ist der Gang.
Die mysteriösen Sarkophage
Die Luft in der 117 Quadratmeter großen Kammer ist stickig und feucht. Ich lasse den Strahl meiner Taucherlampe durch die Finsternis wandern. Direkt vor mir eröffnet sich ein rechteckiger, 11 Meter tiefer Schacht. Rechts vom Schacht schälen sich zwei grob behauene, mächtige Felsblöcke aus dem Dunkel. Sie nehmen den halben Raum ein und wirken bei näherer Betrachtung wie unfertige Sarkophage. Ich frage mich, für wen diese monströsen Behälter wohl gedacht waren, schieße ein paar Fotos, setze mich in den Spalt zwischen den Felsblöcken, lösche ein weiteres Mal das Licht und singe mein Om …
03:45 Uhr. Ich starre auf die fluoreszierenden Zeiger meiner Taucheruhr. Keine Energiewellen! Keine Bewusstseinsveränderung! Nicht mal ein Kribbeln zwischen den Ohren! Wieso will die kosmische Energie nicht in mich einfahren? Was mache ich falsch?
Frustriert begebe ich mich zurück zum vergitterten Eingang. Während ich dort auf die Pyramidenwächter warte, die mich gestern Abend für ein großzügiges Bakschisch in der Pyramide eingeschlossen haben, gehe ich in Gedanken mein nächstes Experiment durch. Dieses Mal muss es einfach klappen …
05:00 Uhr. Es ist noch kühl, dennoch rinnt mir der Schweiß aus den Poren. Einige Meter über mir klettert barfuß Akram, der Sohn von einem der beiden Pyramidenwächter. Ich habe größte Mühe, dem Jungen auf den Fersen zu bleiben. Kein Wunder, denn er hat im alljährlichen illegalen Wettstreit um das schnellste Besteigen der Cheops-Pyramide seine Konkurrenten weit hinter sich gelassen. Diese zollen dem „Pyramid King“ bis zum nächsten Kräftemessen den ihm gebührenden Respekt.
Mit klopfendem Herzen erklimme ich die letzten Steinblöcke, dann stehe ich ganz oben auf dem 138 Meter hohen Monument (ursprünglich 146 Meter). Es ist ein erhabenes Gefühl. Trotz der noch vorherrschenden Dunkelheit ist die Aussicht grandios. Im Osten glitzern die Lichter der gerade aus dem Schlaf erwachenden Stadt. Im Südwesten türmt sich der Schatten der Chephren-Pyramide. Nicht weniger spektakulär ist der Blick nach unten. Mir wird schwindlig dabei und zugleich bewusst: Ein einziger Fehltritt, und ich bin tot.
Ursprünglich waren die Gizeh-Pyramiden mit fein geschliffenen Kalksteinblöcken verkleidet, und auf ihren Spitzen thronten hochglanzpolierte oder sogar mit Gold überzogene Abschlusssteine aus Granit. Die sogenannten Pyramidions glänzten als Erstes in der Morgensonne und leuchteten als Letztes in der Abendsonne. Die antiken Weltwunder standen aber nicht allein in der Gegend. Sie waren die Hotspots einer gewaltigen Tempelstadt. Bis auf den Sphinx und den Taltempel ist von alldem leider nichts mehr vorhanden.
Ich krieche in die Mitte der abgeflachten Spitze der Pyramide, wo ein hölzernes Gestell verankert ist, das die ursprüngliche Bauhöhe von 146 Metern markiert. Akram verfolgt mit Staunen, welche Dinge ich aus meinem Rucksack hervorhole: Zeltstangen-Segmente, eine mit Wasser gefüllte Colaflasche, eine Rolle Klebeband, einen Pullover, eine Neopren-Kopfhaube, Handschuhe und eine Tauchermaske. Zuerst setze ich die Zeltstangen-Segmente zusammen und befestige am Ende der Stange die Flasche mit Klebeband. Anschließend ziehe ich mir den Pullover, die Kopfhaube, Handschuhe und die Maske über. Die Augen des Jungen werden immer größer. Ich drücke ihm meine Kamera in die Hand, weise ihn an, sich hinter dem nächsten Steinblock in Deckung zu begeben und den Auslöser zu drücken, sobald etwas passiert …
In diesem Moment geht am Horizont die Sonne auf, und Akram ruft: »Jalla! Jalla!«
Ich richte die Stange mit der Flasche an der Spitze senkrecht aus. Es ist ein heikler Balanceakt. Vorsichtig schiebe ich die Stange entlang des hölzernen Gestells nach oben, bis sich die Flasche auf der ursprünglichen Höhe der Pyramiden-Spitze befindet. Dann ziehe ich meinen Kopf ein. Nichts passiert. Ich schiebe die Stange und die Flasche einige Zentimeter höher. Keine Reaktion. Ich korrigiere weiter: die Flasche etwas nach links, etwas nach rechts. Nichts! Nada!
Plötzlich zeigt Akram in die Tiefe und ruft: »We must go!«
Fluchend lege ich die Stange nieder und trete an den Rand der Pyramide. Unten auf dem Plateau fuchteln zwei weiß gekleidete Gestalten mit den Armen. Ich frage den Jungen, ob das sein Vater und der andere Wächter seien. Er schüttelt den Kopf, gibt mir die Kamera zurück und beginnt mit dem Abstieg. Eigentlich sollte Akram ein Erinnerungsfoto von mir auf der Pyramide machen, doch er ist bereits zwischen den Steinblöcken verschwunden. So bleibt mir nur, kurz in die Umgebung zu knipsen, dann zerre ich mir das Tauchzeug vom Kopf, schultere den Rucksack und folge dem Jungen. Die Zeltstangen lasse ich oben zurück.
Wie es mir gelungen ist, so schnell und ohne abzustürzen, auf das Plateau hinunterzukommen, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Unten angelangt, macht sich Akram sogleich aus dem Staub, während die beiden Araber mir den Fluchtweg versperren. Ihren schrillen Stimmen nach zu urteilen, stoßen sie allerlei wüste Drohungen gegen mich aus. Mir ist durchaus bewusst, dass es verboten ist, die Große Pyramide zu besteigen, und so haben es die beiden „Sheriffs“ leicht, mich gestenreich davon zu überzeugen, für meine „Freilassung“ ein angemessenes Bakschisch zu entrichten.
Nach dem Pyramiden-Abenteuer kehre ich erst einmal zurück ins Hotel und lege mich schlafen. Nach dem Abendessen treffe ich an der Hotelbar Jochen. Ich hatte den deutschen Ingenieur auf dem Flug von Hurghada nach Kairo kennengelernt und hierbei von meinen Vorhaben erzählt. Jochen ist gespannt darauf, zu erfahren, wie die Experimente ausgegangen sind.
»Völliger Schwachsinn!«, rege ich mich auf. »Mit dieser Esoterik-Mär zieht man gutgläubigen Menschen bloß ihr Geld aus der Tasche!«
»Und was ist mit Napoleon und diesem englischen Schriftsteller?«, hakt Jochen nach.
»Wohl auch nur Lügengeschichten!«, schimpfe ich weiter.
Jochen entgegnet darauf: »Ich glaube eher, du bist nicht der richtige Typ dafür.«
»Ach! Du meinst, es fehlt mir am feingeistigen Rüstzeug, an der Antenne oder etwas in der Art?!«, reagiere ich trotzhaft.
Jochen nickt, grinst und fragt, wie es denn oben auf der Pyramide gewesen sei.
Ich winke ab. »Es ist überhaupt nichts passiert!«
Der Deutsche fragt nach: »Hast du denn auch alles richtig gemacht?«
Ich zitiere aus meinem Pyramidenkräfte-Buch: »Positioniert man eine mit Flüssigkeit gefüllte Flasche an der Stelle der ursprünglichen Pyramidenspitze, bringt die dort eintretende kosmische Energie die Flasche zum Bersten.«
»Ein rein physikalisches Experiment ohne jede spirituelle Anforderung an den Experimentator«, muss Jochen zugeben.
»Genau! Und ich, Idiot, schleppe zum Schutz vor der explodierenden Flasche auch noch meine halbe Taucherausrüstung mit nach oben.«
Jochen klopft mir tröstend auf die Schulter. Wir bestellen Bier für ihn und Cola für mich, plündern den Pistazien-Vorrat von Barkeeper Ahmed und diskutieren bis weit nach Mitternacht über Ägypten, seine Pharaonen, die Pyramiden und die Mysterien, die sich um sie ranken.
Nach dem Frühstück verabschiedet sich Jochen von mir. Seine Weiterreise führt ihn nach Luxor. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer steht plötzlich Ahmed vor mir. Der Barkeeper spricht in einem wilden Mix aus Deutsch, Englisch und Arabisch. Von dem, was er alles sagt, verstehe ich nur Folgendes: »Ich kenne jemanden, der außergewöhnlich schöne Objekte zu verkaufen hat. Sind Sie interessiert?«
Ahmeds Motiv ist schnell durchschaut: Ich soll einen ihm bekannten Händler aufsuchen. Kommt es zum Geschäft, kassiert der Barkeeper eine Provision. Ein Nebengeschäft ohne großen Aufwand für ihn.
Heute ist mein letzter Tag in Ägypten. Das kleine Stadthotel besitzt weder einen Garten noch einen Pool, wo ich mich für den Rest des Tages entspannen könnte. Während meiner Rundreise durch das Land habe ich alles gesehen, was ich sehen wollte, und genügend Souvenirs für meine Familie und Freunde habe ich auch schon erstanden. Nur für mich selbst habe ich noch nichts Passendes gefunden, also nehme ich Ahmeds Angebot gerne an …
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